Thomas Manns Der Tod in Venedig und Franz Kafkas Die Verwandlung, die fast zu gleicher Zeit entstanden sind, zahlen nicht nur zu den Hauptwerken der Autoren, sondern auch zu den am meisten gelesenen und untersuchten Texten der modernen Klassik. Die Studie versucht die beiden Erzahlungen mit großer Anziehungskraft einmal ‘gegeneinanderzulesen’, d. h. vergleichend zu lesen und zu schauen, ob sie trotz aller Unterschiede und Gegensatze nicht auch gemeinsame oder ahnliche Zuge aufweisen. Der Tod in Venedig und Die Verwandlung lassen sich keineswegs nur als autobiographische Texte lesen. Vielmehr stellen sie auch Potrats des modernen Menschen dar. Gustav Aschenbach und Gregor Samsa vertreten jedoch nicht den gleichen modernen Menschen, der ja sowieso nur eine Abstraktion sein kann. Der beruhmte und vorbildliche Schriftsteller Aschenbach, der aus einer gut- und großburgerlichen Familie stammt und inzwischen geadelt ist, wird als ein trotz aller Hemmnisse leistungsfahiger moderner Held stilisiert. Gregor dagegen steht fur all die gesichtslosen Angestellten, die unter eher proletarisch anmutenden Bedingungen seit Jahr und Tag schuften. Die beiden ungleichen Helden unternehmen jedoch vergleichbare Fluchtversuche: Sie verlassen jeweils die Welt der Vater, sie gehen jeweils “in die entgegengesetzte Richtung”(Th. Bernhard). Aschenbach, der von seinem Vater das preußische Arbeitsethos geerbt hat, will weg von “Europa”, weg von “Vernunft” und “Selbstzucht”. Er reist nach Venedig, wo er bald der Macht des Eros unterliegt, wo er sich dem Anderen, dem Exotischen, ja dem Damonischen ausliefert. Gregor versucht ebenfalls aus dem Bereich des Vaters zu fluchten - er fluchtet jedoch in die umgekehrte Richtung: er, der arbeitsbedingt standig auf der Reise sein mußte, bleibt, in ein Ungeziefer verwandelt, einfach in seinem Bett. Diese Flucht wirkt sehr passiv, ist jedoch nichtsdestoweniger radikal: indem er ein arbeitsunfahiges Tier wird, steigt er ganz aus den Systemen der Menschenwelt, aus der Familie, aus der Arbeiswelt, aus der Welt der Symbole uberhaupt aus. Der traditionsbewußte Thomas Mann futtert seinen Text mit vielen bedeutungsschweren Symbolen aus der Mythologie. Kafkas Text dagegen bleibt ganz “buchstablich”(Adorno), d. h. moglichst weit entfernt von herkommlicher Rhetorik, mythologischen Symbolen, religosen Allegorien oder metaphysisch-philosophischen Andeutungen. Gregors Verwandlung ahnelt auch keinem mythologischen Muster. Sie geschieht weder als Strafe noch als Rettung, weder als Belohnung oder Erwiderung noch als Erlosung. Trotz solcher Unterschiede lassen sich die beiden Erzahlungen jeweils als ‘Verwandlungsgeschichte’ lesen. Wie Gregor zuerst in ein Ungeziefer, dann in ein lebloses Ding verwandelt wird, so verwandelt sich Aschenbach in einen vor Liebe narrischen “falschen Jungling”. Die beiden Texte beruhren sich auch darin, daß die Protagonisten vor der streng verwalteten Zeit fluchten. Aschenbach verlaßt den leistungsorientierten europaischen Zeitbereich und erreicht einen paradiesischen Zustand, wo jede fortschreitende Zeit aufgehoben ist, wo eine mythologische, sich wiederholende Jetzt-Zeit herrscht. Gregor fluchtet ebenfalls vor der kapitalistisch-kommerziellen Zeiteinteilung und -verwaltung, was sein beunruhigtes, stark unter Zeitdruck stehendes Bewußtsein im ersten Kapitel hinlanglich zum Ausdruck bringt. Die beiden Erzahlungen enden mit dem Tod der Protagonisten. Fur die ,Fluchtlinge‘gibt es kein Zuruck mehr in die vaterliche Welt. Thomas Mann verleiht jedoch dem Tod des beruhmten Meisters eine gewisse Tragik eines gefallenen Helden. Wahrend damit der Tod Aschenbachs, der einer tabuisierten Liebe verfallen war, ein ambivalentes Erlosungsmoment enthalt, bleibt Gregors Tod, der in jeder Hinsicht unwurdig ist, von jeder Aura der Erlosung oder Befreiung weit entfernt. Der Tod in Venedig und Die Verwandlung - diese kontrastreichen Erzahlungen von zwei bedeutenden deutschen Klassikern der Moderne fungieren immer noch als Zerrspiegel des modernen Lebens und zeigen aus jeweils verschiedener Perspektive unseren ununterbrochenen Traum von einem ‘anderen’ Leben.