Der phantastische Zustand der Hauptfigur in Kafkas 『Verwandlung』 wird in der Forschung oft im Sinne von (Alp)Traum, Un(ter)bewußtsein betrachtet. Im Unterschied dazu will diese Arbeit eine Verbindung zur Historizitat der Wirklichkeitserfahrung der westlichen modernen Gesellschaft im fruhen 20. Jahrhundert herstellen. Mit der Wirklichkeitserfahrung der Moderne wird hier Veranderung gemeint, insbesondere die Veranderung in Bezug aufdas Verfugen der Medien uber Raum, Zeit und Geld, mittels deren sich das reale soziale Machtverhaltnis entfaltet sowie sich die Wirklichkeitserfahrung konstituiert. Nach David Harvey(The Condition of Postmodernity. An Enquiry into the Origins of Cultural Change) handelt es sich bei jenem rapiden Wandel mit unserem Begriff von Zeit und Raum um nichts anderes als um die Erfahrung der Comprassion von Zeit und Raum. Es ist, wie man im zug der atemlos galoppierenden technischen Entwicklung des Mediums und Vehikels zeitlich und raumlich entfernte Dinge immer naher erlebt. Die Kultur des Modernismus ist so gesehen die Reaktion auf die Comprassion von Zeit und Raum, und auf die daraus resultierte Krise der kunstlerischen Reprasentation. Modernismus konzentrierte sich namlich im Zeitraum von 1910~1914, unmittelbar vor dem 1. Weltkrieg auf diese Erfahrung und Uberwindung durch neue alternative Formen des Zeit- und Raumbewußtseins. Harveys Verstandnis des Modernismus scheint fur den phantastischen Zustand der Firgur Georg Samsa auch aufschlußreich. Eben als eine Mischform von Mensch und Tier dargestellt, faßt es sich ja als Sinnbild fur die andere Seinsweise, also fur ein anderes Maßstab fur Zeit und Raum. Die Verwandlung widerlauft nicht allein dem Wahrscheinlichkeitssinn. Sie lehnt auch das allgemeine moderne Phanomen der Verzeitlichung des Raums, Comprassion von Zeit und Raum ab. Als Signal fur neues Tempo, neuen Bewegungsraum und neu es Verhaltnis zu Zeit und Raum funktionieren einige Requisiten bzw. Details. Es sind Photographie und Zug, zwei moderne technische Erfindungen, deren Verbreitung unser Zeit- und Raumbewußtsein nachhaltig und irreversible verandert hat. Im Zimmer Gregors hangt ein Bild von einer Dame im Pelz, eine Art Reklame-Photobild. Diesem Bild gegenuber hangt im Wohnzimmer noch ein Bild, ein Photo-Portrait von Gregor in seiner Militardienstzeit. Es wird darauf hinausgehend interpretiert, daß diese Photos Gregors Identitat und deren Verwirrung durch Verwandlung gegeneinander ausspielen. Die vorliegende Arbeit liest dies aber nicht im Sinne von Identitatsverlust, sondern im Sinne von experimenteller, daher emanzipatorischer Koexistenz vom menschlichen Bewußtsein und tierhafter Korperlichkeit, von Vergangenheit und Prasens. Die maschienelle und visuelle Art der Synchronitat von Vergangenheit und Prasens, die erst durch die Photographie ermoglicht wunde, verstarkt wohl die lineare Zeitvorstellung des modemen Zeitalters, deren Betonung auf den Zeit als Prozedualitat, auf den Werdenscharakter der Welt. Zugleich verzerrt die Photographie doch die Ubermacht der Vergangenheit gegenuber dem Prasens, die Dominanz des becoming (werden) gegenuber dem being (sein). Gregors fragile Identitat, die durch zwei Photobilder projiziert ist, verkorpert das eigentlich Chaotische, die Unordnung des Prasens, unseres Seins. Es ist mit Foucault gesagt das Heteropia A und Nicht A zugleichsein. Dazu kommt noch, daß anfangs sowie zun Ende der Geschichte von einer Fahrt mit Zug und Straßenbahn die Rede ist, als ob damit eine Markierung fur die Grenze zwischen dem normalen Alltag und dessen Irritation geboten ware. Gregors Verwandlung ist gleichzeitiges Geschehnis mit seinem Verschalfen und Verpassen des Zuges fur die Geschaftsreise: Sein Zug ist abgefahren wahrend er schlief, und er wachte auf als ein Verwandelter. Dementsprechend wird nach dem Tod Gregors wieder Bahn gefahren: Mutter, Vater und Schwester Gregors, endlich der schweren Lasten des Verwandelten entladen, fahren spazieren mit der Straßenbahn ins Freie, und unterhalten sich uber die Zukunft der Familie. Zug-Verpassen und Straßenbahen-Nehmen assoziert Ausstieg aus dem Rhythmus des modemen Lebens und (erneuten) Einstieg in denselben. So gesehen, wie fremd Gregor im Korper eines kleinen Untiers erlebt, stellt sein hochster phantastischer Zustand das Verhaltnis des Korpers zun Raum in seinem unveraußerlichten Sinne des Wortes dar. Es ist namlich der Raum, der nie auf messbare Zeiteinheiten reduzierbar oder kontrollierbar, daher nicht austauschbar ist. Er simuliert eher die tierhafte, wilde (Re) Territorialisierung des (modernen) verzeitlichten Raums.