Die vorliegende Arbeit beabsichtigt, anhand der Analyse des Romans Bronsteins Kinder von Jurek Becker Probleme des Identitätsverlustes eines jungen ostdeutschen Juden sowie (Generations-) Konflikte unter andersartigen Rassen in Deutschland zu verdeutlichen. Das präzis konzipierte Werk besteht aus 36 Kapiteln, in denen sich keine klaren Handlungsabläufe erkennen lassen. Dies sollte dazu beitragen, den Leser vor allem auf die grundsätzlichen Konflikte, mit denen die Figuren konfrontiert sind, aufmerksam zu machen.
Der Abiturient Hans Bronstein stößt 1973 in einem Ferienhaus auf seinen Vater Arno Bronstein, der mit zwei Freunden einen Fremden ans Bett gefesselt hat und ihn einem Verhör unterzieht. Beim Gefangenen handelt es sich um Arnold Heppner, der jemals in Neuengamme als KZ-Aufseher tätig war. Daraufhin kommt es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen den beiden. Hans plädiert für offizielle juristische Verhandlungen nach rechtmäßigen Prozeduren und sympathisiert sogar mit Heppner. Arno hämmert seinem Sohn ein, ihm bleibe nichts anderers übrig, als sich selber seine Ärmel hochzukrempeln, da die SED nach wie vor die ehemalige Nazi-Verbrecher in Ruhe lasse. Aus den Zankereien tritt ein Geheimnis der Geburt von Hans hervor, das unauflöslich mit dem Schicksal seiner Eltern verbunden ist: Diese hatten 1938 ihre dreijährige Tochter Elle bei einem Bauern versteckt. Beim Kriegsende erhielten sie sie zwar wieder, das verwahrloste Kind zeigte aber eine starke Agressivität, woraufhin es von da an in einer psychischen Anstalt unterbringen mussten. Von lauter Reue gepeinigt, entschließen sich die Eltern zu einem zweiten Kind. Dennoch misst Hans diesem Sachverhalt keine Bedeutung bei und will seinen Plan, den KZ-Aufseher zu befreien, verwirklichen. Als er seinen Vater letztlich im Ferienhaus entdeckt, stirbt dieser vor Wut an einem Herzinfarkt. Der befreite ehemalige KZ-Aufseher lebt später im Westen, wo er seine Rente bekommt.
Beckers Roman hinterfragt die Rechtmäßigkeit dieser Form von Selbstjustiz: Jeder Akt von Selbstverteidigung, der sich plötzlich zuträgt, soll rechtlich unerheblich sein. Hingegen sollen Rache und Vergeltungen, welche nach langer Zeit passieren, nach dem Gesetz strafbar sein. Denn nur der Staat übe -so steht es geschrieben- stellvertretend für Rache und Vergeltungen sein Amt aus. Inwieweit kann ein Mensch gegen die lang kaschierte Schuld eines KZ-Aufsehers Repressalien anwenden, wenn es sich der Staat zu einem Prinzip macht, sich keineswegs in diese Angelegenheit einzumischen? Die Tat Arno Bronsteins widerspricht sicherlich dem gängigen positivistischen Recht, aber sie erweist sich letztlich als eine vehemente Anklage gegen das staatliche Pflichtversäumnis.
Relevant ist die Tatsache, dass der Autor die ganze Geschichte aus der Sicht eines jungen, ostdeutschen Juden erzählt. Dies hängt mit seiner Absicht zusammen: Für Hans besteht keine Möglichkeit, seine Krise zu überwinden, solange er die Tat seines Vaters und deren Sinn nicht begreift.. Im Hinblick darauf suggeriert Jurek Becker: Die wahre Vergangenheitsbewältigung sei nur dann möglich, wenn die sich in der heutigen multikuturellen Gesellschaft befindenden Menschen bemühten, freiwillig Kritik an ihren eigenen Fehlern zu üben und Frieden und Koexistenz ernstlich zu überlegen. Becker lässt beispielsweise Arno Bronstein Folgendes behaupten: Diejenigen, die den Faschismus zurückgeschlagen hätten, seien nicht Deutsche, sondern lediglich die aliierten Soldaten, und zwar nur mit Gewalt. Von daher sei die Gefahr eines neuen Faschismus allenthalben gegeben. Zumal mache sich die Politik Israels -so Becker- bemerkbar: Die bisher leidenden Juden könnten sich unter Umständen ohne weiteres in schauerliche Übeltäter verwandeln