Im Sommer 2006 hat Gunter Grass mit seinem neuen Buch Beim Hauten der Zwiebel grosse Aufmerksamkeit in der Offfentlichkeit, dadurch, auf sich gezogen, dass er darin bekanntgibt, er habe im zweiten Weltkrig bei der Waffen-SS gedient. Es versteht sich, dass das Bekenntnis des 78-jahrigen Nobelpreistragers sofort eine heiße Debatte in und außerhalb Deutschland ausgelost hat. Das neue Buch, dessen Gattung vom Autor selber ungenannt bleibt, ist ein Erinnerungsbuch, wenn er auch offensichtlich versucht, sich von den Memoiren im herkommlichen Sinne femzuhalten. "Die Erinnerung [gleicht] einer Zwiebel." Wie dem von Grass selber gebrauchten Vergleich zu entnehmen ist, steht der Titel Beim Hauten der Zwiebel fur seine Erinnerungsarbeit. In diesem Buch wird, wie etwa auch in der Blecbtrommel; Grass' Leben von 1929 bis 1959 erzahlt. Es ware daher kein Zufall, wenn ein Leser der Blechtrommelim Erinnerungsbuch das Leben Oskar's wiederfinden wurde. Was die Jugendjahre von Grass betrifft, legte die Grass-Forschung bisher zugrunde, dass Grass als Flakhelfer eingezogen worden war und dann als Soldat gedient hatte. Man geht nicht fehl, wenn man sagt, dass dieser Stand von Grass selber stillschweigend anerkannt wurde. Damit ist Grass dem Verdacht unterworfen, ob er bislang seine Leser wissentlich getauscht habe. Der Friedensnobelpreistrager und fruhere polnische Prasident Lech Walesa hat unverzuglich gefordert, dass Grass seine Danziger Ehrenburgerschaft zuruckgeben soll. Ahnlich außerte ein junger Politiker die Erwartung, dass Grass den Literaturnobelpreis zuruckgebe. Die Zugehorigkeit zur Waffen-SS ist fur seine Leser und Kritiker ohne Zweifel ein Skandal. Was sie aber noch mehr stutzig macht, ist sein Schweigen uber 60 Jahre. Nicht weniger sind seine Leser und Kritiker verblufft, wenn Grass meint: "Ich bin zur Waffen-SS gezogen worden, war an keinem Verbrechen beteiligt." In der ganzen Nachkriegszeit hat sich Grass namlich als "einer der rigorosesten und unbarmherzigsten Moralapostel der Bewaltigung der Vergangenheit aufgespielt", und zwar ohne seine SS-Vergangenheit der Offentlichkeit gegenuber preiszugeben. Um so mehr verwunderlich ist es, dass er nun in seinem neuen Erinnerungsbuch dazu kommt, seine Mitgliedschaft der Waffen-SS zu Tage zu bringen. Warum erst jetzt? In einem Interview mit U. Wickert gibt Grass darauf eine Antwort: er habe immer das Bedurfuis gehabt, "eines Tages daruber in einem großeren Zusammenhang zu berichten." "Und das hat sich jetzt erst ergeben", so Grass, "indem ich meine inneren Widerstande uberwunden habe, uberhaupt autobiografisch zu schreiben und diese meine jungen Jahre zum Thema gemacht habe." Es scheint, dass diese Erklarung von Grass bei den Journalisten und Kritikern wenig Achtung findet. Vielmehr vermuten manche Journalisten und Kritiker, dass Grass auch in seinem neuen Buch Vieles verdunkelt. Es ist durchaus anzunehmen, dass Grass mit seinem verspateten Bekenntnis vieles an seinem Ansehen sowie an seiner Glaubwurdigkeit einzubußen hat. Auch erscheint es sehr wahrscheinlich, dass der Verlust der Glaubwurdigkeit notwendigerweise auf seine literarischen Werke Auswirkungen haben wird. Dies darf allerdings nicht dazu fuhren, Grass' Bekenntnis als Luge abzutun oder seine literarischen Werke ausschließlich nach historisch-faktischen Kategorien zu bemessen. Vielmehr erscheint es mir angebracht, die laufende Grass-Debatte als Anlaß dazu zu nehmen, Grass' Erinnerungsarbeit in dem neuen Buch Beim Hauten der Zwiebel unter dem Gesichtspunkt der Dichotomie von "Gedachtnis" und "Erinnerung", von "Historie" und "Geschichte", die dem Umgang mit der Vergangenheit bei Grass immer zugrundeliegt, einer genaueren Betrachtung zu unterziehen, anstatt uns in Spekulationen zu verlieren. Das heißt naturlich nicht, dass wir Grass' verspatete Bekenntnis zu seiner Waffen-SS unreflektiert hinnehmen wollen. Es erscheint beinahe unumganglich, das umstrittene Bekenntnis von Grass unter dem Aspekt der Literatur und Wahrheit resp. der Literatur und Moral noch einmal einer Betrachtung zu unterziehen, indem wir etwa der Rede von Th. Mann Gehor schenken: "Wahrhaftigkeit - Kunst und Moral werden eins in ihr. Wir sind keine Astheten und Gecken des Immoralismus. Das Kunsturteil 'gut' hat niemals bloß asthetischen Sinn […]"