In der folgenden Arbeit soll die Hypergraphie Kafkas betrachtet werden, die durch Veranderungen in einem bestimmten Bereich des Gehirns erzeugt wird und in einem manisch-depressiven Geisteszustand denSchreibrausch verursacht. Das leidenschaftliche Schreiben von Kafka wird damit nicht nur als großartigemenschliche Leistung, sondern in der Neurologie auch als biologische Reaktion im Rahmen der Hypergraphie interpretiert.
Der klinische Hypergraphiezustand von Kafka zeigt sich insbesondere in seinen Briefen an Felice (1912-1917). Denn unter anderem wird dort die charakteristische und ubermaßige Detailgenauigkeit eines Hypergraphikers deutlich. Durchschnittlich betragt die briefliche Antwort eines normalen Patienten 78 Worte, wohingegen die Antwort eines Hypergraphikers bis zu 5000 Worte fasst. Kafkas Schreibfluss ruhrte zudem vielmehr aus einem starken, bewussten, inneren Antrieb heraus als dass er sich von außerenEinflussen leiten ließ. Seine Briefe beschaftigten sich meist mit Themen, die in hohem Grad bedeutungsvoll fur ihn und in sich selbst waren, haufig autobiografisch oder philosophisch gepragt.
Wenn aber die Neurologie die Schreiben Kafkas allein unter dem Aspekt des pathologischen Zustands seines Gehirns betrachtet, so reduziert sie die menschlich schopferischen Motivationen eines großen Autors lediglich zu elektrischen und neurochemischen Mustern.
Die Schreiben Kafkas zu betrachten, erweist sich gerade deshalb als besonders, da sie uber die Motivation der literarischen Kreativitat eines Autors hinausgehend, nicht nur im psychologischen Sinn, sondern auch anhand neurologischer Aspekte, einiges uber den Autor verraten. Der Schreibrausch Kafkas kannsowohl alsReaktion eines Hypergraphikers als auch als therapeutischer Prozess seiner psychischen Krankheit interpretiert werden. Man kann sich fragen, ob man im Rahmen des leidenschaftlichen Schreibens von Kafka zu unterscheiden vermag, ob es sich dabei um ein geniales, menschliches Vermogen handelte oder diese Genialitat allein aus einer psychischen Krankheit entsprang. Weiterhin kann die Frage gestellt werden, welche Bedeutung einer solchen Unterscheidung beizumessen ist. Den Zustand des Gehirns eines großen Autors, den dortigen Zusammenhang der Geschehnisse zu erkennen ist wichtig. Denn dessen schriftstellerische Tatigkeit, die als edles oder sogar als transzendentales Handeln geschatzt wurde, wurde - objektiv betrachtet - durch eine neurologische und psychische Krankheit beeinflusst, welche dem Autor einen neuen Aspekt kreativen und schopferischen Schreibens eroffnete.