Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften, durch dessen seltsame Liebesgeschichte das Zeitbild schimmert, ruft seit der Veröffentlichung im Jahr 1809 heftige Diskussionen und mannigfaltige Interpretationen hervor. Die Frage, wie Ottilies Entsagung und Sühne nach dem Ertrinken Ottos verstanden werden sollen, wurde sowohl in der zeitgenössischen Rezeption als auch in unzähligen Forschungsarbeiten wiederholt diskutiert. Wenn man berücksichtigt, dass dieser Roman ursprünglich als eine Novelle für die Wanderjahre entworfen war und deren Untertitel Die Entsagenden ist, kann man die entscheidende Rolle des Themas ‚Entsagung‘ für das Verständnis der Wahlverwandtschaften nicht verneinen. Das gilt auch aus der biografischen Perspektive: Goethe schuf die Figur Ottilie aus seiner eigenen Erfahrung, nämlich aus seiner Altersliebe zu dem achtzehnjährigen Mädchen Minna Herzlieb. In Ottilies Entsagung und Tod spiegelt sich seine eigene persönliche Erfahrung der Entsagung wider. Im vorliegenden Beitrag wird versucht werkimmanent zu erhellen, aus welchen Beweggründen und unter welchen Umständen Ottilie entsagt und inwieweit ihre Entsagung dem entspricht, was der alte Goethe unter dem Begriff der Entsagung verstand. Ottilie, die als arme Waise sich selbst übermäßig unterdrückte, wird aus den sehr drückenden Verhältnissen im Mädchenpensionat gerettet, indem sie als „ein Viertes“ ins Feld der Wahlverwandtschaften eintritt. Sie scheint dadurch geheilt zu werden, dass sie den väterlichen Eduard liebt und von ihm geliebt wird. Ihre zarte Seele wird jedoch durch seine kindische Ungeduld und seine Willkür wiederholt verletzt: In dem höchsten Hoffnungsmoment muss sie die plötzliche Trennung von ihrem Geliebten, die entsetzliche Wahrheit von Charlottes Schwangerschaft und die erschreckende Nachricht von Eduards Teilnahme an dem Krieg erleiden. Der zurückgekehrte Geliebte versetzt sie wiederum in volle Erwartung auf die Heirat mit ihm, was jedoch gleich in eine Katastrophe mündet. Ottilie entschließt sich danach, durch die Tätigkeit als Erzieherin im Mädchenpensionat ihre Schuld zu sühnen und gleichzeitig sich selbst zu hüten. Ihr Entschluss scheitert jedoch wiederum durch die unerwartete Begegnung mit Eduard im Wirtshaus. Sie sieht von nun an keinen Ausweg mehr aus dem Widerstreit zwischen ihrer sittlichen Natur und ihrer sinnlichen Natur, nämlich zwischen den selbst geschaffenen Gesetzen oder verinnerlichten Normen und der Leidenschaft für Eduard. Vor der Aporie, dass sie nicht Eduards Frau werden kann, obwohl sie ihn liebt, greift sie zum letzten Mittel: Sie beginnt zu schweigen und sich der Nahrung zu enthalten. Dieser Weg zur Selbstvernichtung lässt sich nicht als wahre Entsagung verstehen, die der alte Goethe sich überlegte. Für ihn bedeutete Entsagung die Einsicht in die notwendige Bedingtheit des Menschseins, deren tätige Realisierung, bisweilen schmerzlichen Selbstzwang, aber auf der höchsten Stufe heitere Gelöstheit und eine Freiheit als freiwillige Abhängigkeit. Selbst Ottilies Verweigerung zu sprechen und zu essen ist aber nicht auf ihre eigenen tiefsinnigen Überlegungen und ihren selbstständigen Entschluss, sondern auf Charlottes Rat zurückzuführen, den sie verinnerlicht hat. Und es ist auch ironisch, dass das Suizidmittel, das sie gewählt hat, das Fasten ist. Wenn man die Tatsache, dass die „große Mäßigkeit im Essen und Trinken“ für Ottilie eine Gewohnheit war, und Eduards Worte, „Was ihr Seligkeit gewesen, wird mir Pein“, berücksichtigt, lebt sie bis zu ihrem Hungertod als Liebende fort. Freilich stellt sich die Frage, ob man sich ohne Selbstüberwindung bis zum Tode der Nahrung enthalten kann. Auch wenn sie darunter gelitten hätte, kann man ihren Versuch der Selbstvernichtung nicht als Entsagung zur Freiheit ansehen. Wenn sie gemäß ihrem eigentlichen Plan zum Mädchenpensionat gegangen wäre, dort die Qual des Abschieds erduldet und durch die Tätigkeit eine neue Hoffnung des Lebens gefunden hätte, hätte sie sich dem Ideal der Entsagung im Sinne der Wanderjahre angenähert.