Zeitlich betrachtet fallt das kunstlerische Schaffen Kathe Kollwitz’ mit den Stromungen des Impressionismus und des Expressionismus zusammen, in denen ‘Kunstautonomie’ als Schlusselwort fungiert. In den Werken dieser neuartigen Kunstrichtung wird der Schwerpunkt im Akt des Schaffens vom Ausdrucksgegenstand hin zum Mittel verlagert, d. h. immer starker ruckt die Autonomie als ubergeordneter Wert in den Mittelpunkt. Vor diesem Hintergrund fallt die Kunst von Kollwitz aus ihrer Zeit. Die Kunstlerin setzte sich in erster Linie mit zeitlich-raumlichen Fragen ihrer ‘Zeit’ und ‘Gesellschaft’ auseinander und wahlte dafur als geeignetes Mittel die Schwarzweiß-Kunst. In ihren Augen bot die Einfachheit der Grafik das beste Ausdrucksmittel, um den spezifischen Eigenschaften des Volkes gerecht zu werden.
Neben gattungsrelevanten und ideologischen Eigenschaften zeichnet sich die Kollwitz’sche Kunst durch die Verbundenheit mit der Literatur aus. Bei Kollwitz ist die Literatur bwz. die literarische Artikulation eine entscheidende Triebkraft, womit nicht einfach nur gemeint ist, dass viele ihrer Werke auf literarische Stoffe zuruckgreifen, sondern auch, dass das Literarische in der Wahl von Thema, Gattung und Technik ein maßgeblich strukturierendes Kriterium bildet. Unter ihren vielfaltigen Bemuhungen, literarische Werke in visuelle Kunst zu transformieren, ist vor allem der Bilderzyklus Der Weberaufstand hervorzuheben, der auf Gerhart Hauptmanns Drama Die Weber basiert.
Nicht nur, weil er auf ein literarisches Werk rekurriert, ist Der Weberaufstand von großem Interesse, sondern auch, weil der Zyklus selbst eine literarische Grundlage aufweist. Diese ‘literarische Grundlage’ geht zuruck auf eine Theorie Max Klingers, der zufolge das Genre der Grafik und die Zyklus-Form sehr eng mit der literarischen Phantasie zusammenhangen. Diese Voraussetzungen liefern wichtige Anhaltspunkte fur eine Neuvermessung der schopferischen Kreativitat Kollwitz’, die von ihrer literarischen Kunstauffassung ausgeht.
Die vorliegende Arbeit verfolgt das Ziel, die ‘Verbundenheit’ und ‘Individualitat’ bei Kollwitz herauszuarbeiten, die bei der Transformation des Hauptmann’schen Dramas in visuelle Kunst wirksam waren. Hierfur werde ich zunachst anhand der Naturalismus-Debatte der Bedeutung der Volksliteratur bei Hauptmann nachgehen, um im Anschluss daran die formalen, szenischen Besonderheiten des Dramas sowie die in ihm enthaltene ideelle Autorintention zu untersuchen. Daraufhin sollen im Vergleich der dramatischen Techniken bei Hauptmann mit der szenischen Darstellung im Kollwitz’schen Bilderzyklus das besondere literarische Verfahren bei Kollwitz herausgearbeitet werden. Durch den Einblick in die literarische Vorstellungskraft im Werk Kollwitz’ sowie in ihre literarische Herangehensweise hoffe ich, ein Bewusstsein fur den bislang wenig beachteten kreativen Aspekt der Kunstlerin zu wecken.