In diesem Beitrag wird versucht, die mit den Textanalysen sichtbar werdenden vielfaltigen Bedeutungsfelder des modernen verlorenen Sohnes in der deutschen Literatur zu erschließen. Werke von Franz Kafka, Rainer Maria Rilke und Robert Walser stehen dabei im Zentrum des Interesses. Deren Bedeutung liegt darin, dass diese Autoren die pragendsten Umdichtungen des Motivs "verlorener Sohn" geliefert haben und jenes Motiv in ihrem jeweiligen Schaffen des Gesamtwerks eine nicht unbedeutende Rolle spielt.
In Kafkas Heimkehr beschaftigt sich der heimgekehrte Sohn nicht mit dem Vater, sondern mit den Dingen und Menschen, die zwischen ihm und dem Vater liegen. In ambivalenter Haltung hadert der heimgekehrte Sohn innerlich mit ihnen und lauft keinen Schritt in Richtung Vater vorwarts. Der Sohn mit seinem Interesse an Dingen und Menschen zwischen sich und dem Vater gibt damit ein Sinnbild fur den modernen Menschen, der sich im Blick auf die metaphysische Frage zwischen Verneinung und Bestatigung ambivalent verhalt und bei dem das Verhaltnis von Einzelnem und Allgemeinem nicht mehr wie fruher ohne weiteres herzustellen ist.
Um Rilkes verlorenen Sohn zu interpretieren, sind mehrere motivverwandte Texte, z.B. Malte-Roman, Puppen-Essay und Gedicht Der Auszug des verlorenen Sohnes heranzuziehen. Es dreht sich in diesen Texten vor allem um Liebe als Art der (entstellten) Reflektierung; die Liebe (ver)schenken; erwarten, erwidert zu werden; schweigendes Liebesgegenuber und die Enttauschung. Die Liebe geht erst spater in Erfullung und zwar in einer Form der Identitatsfindung und der dichterichen Produktivit"t: indem der jeweilige Protagonist unverhofft seiner langst vergangenen, komplett vergessenen Kindheit wiederbegegnet, tragen die unwillkurlichen Erinnerungen dazu bei, fragmentiertes Ich vollstandiger zu machen und Dichtung als Frucht der Erinnerungs- und Identitatsarbeit hervorzubringen.
Wie es an den Texten wie Jakob von Gunten und Geschichte vom verlorenen Sohn gezeigt wird, ist charakteristisch fur Walsers Konzept des verlorenen Sohnes vor allem der Kontrast, der zwischen dem verlorenen Sohn und dem zu Hause gebliebenen Bruder besteht. Gegensatze stehen bei Walser nicht nur in einem Kontrast zueinander, sondern sie hangen auch voneinander ab. Walsers verlorene Sohne erziehen sich selbst durch ihre `andere` Lebenart und sich mit sich selbst friedlich und identisch. Walser stellt sie als die versteckten bzw. verdrangten Anderen der burgerlichen Gesellschaft dar. Sie verkorpern zugleich ein gleichwertiges Gegenkonzept der burgerlich geruhmten Lebensfuhrung.